Auf der Straße sieht man viele, ältere Menschen, die nicht immer wahrgenommen bzw. beachtet werden. In den Katalogen gibt es keine Mode für ältere Menschen um die 70-80 oder gar 90 Jahre, Für die Werbung sind sie nicht interessant, zu wenig Konsum…Sie sind eine Art Randnotiz unserer schnelllebigen Gesellschaft geworden.
Allerdings sehe ich das anders.
Auch diese Menschen waren jung. Auch diese Menschen haben ihre Lebensgeschichten, sie sind lediglich viel weiter geschrieben. Und die Meisten haben eine Zeitepoche durchleben müssen, die wir hoffentlich nie kennenlernen werden, einen Weltkrieg; Zerstörung, Armut, Hunger, Angst, Ungewissheit, Hoffnungslosigkeit, Verlust.
Diesen Menschen ist immerhin zu verdanken, dass Sie Deutschland im Rekordtempo wieder aufgebaut haben, als sie Millionen von Tonnan an Schutt und Trümmer teilweise mit Händen beiseite räumten. Der Fleiß der sogenannten „Trümmerfrauen“ wurde legendär und wurde weltweit bewundert. Sie waren keine Randnotiz. Auch Ihnen haben wir zu verdanken, dass es uns heute so gut geht. Sie haben uns die Steine der Vergangenheit aus dem Weg geräumt.
Ich will euch heute Schicksalsschläge aus meiner Familie näherbringen.
Dieses Ereignis hörte ich auf einer Geburtstagsfeier im Familienkreis
1)
Ein verwandter Onkel von mir (aus Schlesien) sollte mit seinem Bruder von einen russischen Soldaten erschossen werden (der Grund dafür ist mir leider entfallen bzw. ich bin mir nicht ganz sicher). Sie standen bereits vor einer Mauer. Die Pistole hatte in diesem Moment eine Ladehemmung. Der Soldat sah diese Situation anscheinend als Schicksal an und ließ die Jugendlichen laufen. Nur aufgrund der defekten Pistole saßen wir gemeinsam an einem Tisch.
Als meine Tante mir Ihre folgende Geschichte erzählte, war ich den Rest des Tages wie benommen! Wenn ich jetzt richtig zurückrechne, dann war meine Tante 12 Jahre alt.
2)
Meine Tante kommt aus Königsberg, Ostpreußen, und war auf großen Flucht vor der Roten Armee, zu Fuß, wie mehrere Hunderttausende auch! Es war ein eisiger Winter, es war Januar im Jahre 1945. Meine Tante war mit Ihrer Mutter und ihren Schwestern auf den Weg zu der Wilhelm Gustloff, welche in Gotenhafen vor Anker lag. Ihre jüngste Schwester war gerade einmal 4 Monate jung. Sie erfror während des Marsches, konnte jedoch nirgendwo beerdigt werden, da der Boden gefroren bzw. vereist war. Sie nahmen das Baby vorerst weiter mit. Es kam dann der Moment, wo man die Kleine doch zurücklassen musste. Man legte Sie geschützt hinter einen Busch und bastelte ein kleines Kreuz. Dann war der Moment des Abschieds gekommen. In der Nähe mehrerer Flüchtlingslager verlor meine Tante wenig später den Kontakt zu ihrer Mutter. Sie hockte sich abends in der Eiseskälte im Schutze einer Kirche. Ihr wimmern wurde von einem Pfarrer gehört. Er nahm Sie auf, gab ihr warme Sachen, eine heiße Suppe und suchte dann alle Lager nach ihrer Familie ab, mit Erfolg. Ihm sei Dank. Am nächsten Tag ging der Fußmarsch weiter in Richtung Gotenhafen. Dort angekommen wähnte man sich in Sicherheit. (Am 21. Januar 1945 ordnete Großadmiral Dönitz das Unternehmen Hannibal an, in dessen Rahmen verwundete Soldaten mit allen verfügbaren Schiffen in das westliche Reichsgebiet transportiert werden sollten. Mittlerweile war die Mitnahme von Zivilisten erlaubt worden, so dass 2,5 Millionen Menschen über die Ostsee entkommen konnte). Auch die Wilhelm Gustloff sollte sich an der Evakuierung beteiligen. Am 30. Januar 1945 legte sie gegen 13:10 Uhr mit schätzungsweise über 10.000 Menschen an Bord in Gotenhafen ab. Die genaue Anzahl der Passagiere und Besatzungsmitglieder ließ sich nie mit letzter Sicherheit feststellen, da ihre Flucht übereilt erfolgte. Meine Tante hätte mit ihren Schwestern auf das Schiff gedurft, die Mutter hingegen wollte man nicht mitfahren lassen. Da die Mutter ihre Kinder nicht alleine lassen wollte, entschloß sie sich weiterhin für die Flucht auf dem Landweg. Am gleichen Tag, gegen 21 Uhr, wurde die Gustloff von einem russichen U-Boot torpediert und sank nach einer Stunde, etwa 23 Seemeilen von der pommerschen Küste entfernt. Lediglich 1252 Menschen überlebten die größte Schiffskatastrophe!
Die Erzählung meiner Tante war erheblich dramatischer und ausführlicher als das, was ich nun niedergeschrieben habe. Aber ich glaube Anhand des Textes kann man diese menschenunwürdige Zeit durchaus nachvollziehen. Ein Schicksal von Millionen.
Als ich meine Tante und meinen Onkel im Dezember besuchte, sprachen wir auch über ein anderes Weltkriegsschicksal unserer Familie, das ich jedoch nicht niederschreiben werde. Er hatte Tränen in den Augen, als wir unser letztes Gespräch beendet hatten. Kurz danach ist er leider verstorben.
Die Gustloff (Quelle: Deutsches Staatsarchiv)