OKTOBERREVOLUTION 1917:
Einem Husaren-Gardeoffizier geschah damals nach Angaben seiner Ordonnanz Folgendes: Zuerst rissen seine Soldaten ihm ein Auge heraus. Dann zwangen sie ihn zuzuschauen, wie sie seine Kameraden ermordeten. Dann rissen sie ihm auch das andere Auge heraus, brachen ihm Hände und Füße und folterten ihn zwei Stunden lang, indem sie ihn auf ihren Bajonetten aufspießten und mit Gewehrkolben bearbeiteten, bis er endlich starb.
Der Hass der Volksmassen auf die burschui tobte sich beinahe ungehindert aus. Die burschui – die Bourgeois – waren keine fest umrissene Gesellschaftsklasse, gemeint waren einfach alle, denen es besser ging: die Großkopfeten, unter ihnen die Angehörigen der russischen Aristokratie.
Ein paar Monate nach den geschilderten Ereignissen wurde die Regierung über Nacht weggeputscht. Ein Trupp bewaffneter Revolutionäre marschierte ins Winterpalais, ohne dass ihm jemand nennenswerten Widerstand geleistet hätte. Scharen von Arbeitern, Soldaten, Matrosen plünderten den Weinkeller des Zaren, betranken sich sinnlos, ermordeten burschui auf der Straße und in ihren Häusern. Die Bolschewiki gossen den Wein direkt in die Gosse, um die Sache irgendwie unter Kontrolle zu bringen, aber die Leute legten sich einfach in den Rinnstein und soffen weiter.
Das Chaos dauerte wochenlang; es endete erst, als die letzte Flasche ausgetrunken war. In die Geschichte ist jenes Riesenbesäufnis bekanntlich als „große sozialistische Oktoberrevolution“ eingegangen. Der Schriftsteller Maxim Gorki klagte damals aber, man habe es gar nicht mit einer Revolution zu tun, sondern mit „einem Pogrom der Habgier, des Hasses und der Rache“. Hinterher wurden Aristokraten von den Bolschewiki danach als „ehemalige Leute“ bezeichnet; manchmal auch als „die noch Ungeschlachteten“.
Wenn sie zum Schneeschaufeln oder zum Reinigen von Toiletten eingeteilt wurden, hatten sie noch Glück: Im Frühjahr 1918 veröffentlichten die Bolschewiki in Krasnodar einen Erlass, dass alle unverheirateten Frauen zwischen 16 und 25 Jahren zu „vergesellschaften“ seien. Daraufhin ergriffen Rotarmisten ungefähr 60 Frauen, die alle der Oberschicht angehörten, verschleppten sie in ein Haus und vergewaltigten sie. Einem Mädchen, das die fünfte Klasse in einem Gymnasium besuchte, wurde zwölf Stunden lang unaufhörlich Gewalt angetan, dann banden die Rotarmisten das Mädchen an einen Baum und zündeten seine Kleidung an; erst dann erlösten sie es mit einem Schuss von seinen Qualen.
Rein sportlich muss man zugeben, dass der bolschewistische Putsch der erfolgreichste Raubüberfall der Geschichte war. Zwischen dem November 1917 und dem Ende des Bürgerkrieges übertrugen die Bolschewiki beinahe den gesamten öffentlichen und privaten Besitz des Landes in ihre eigenen Hände – an die 160 Milliarden Dollar.
Sehr beliebt wurde es damals, Aristokraten als Geiseln zu nehmen und von ihren Angehörigen Lösegeld zu erpressen. Lenin wusste nicht nur davon, sondern förderte diese Praxis sogar. Bald taten es die Kriminellen den Bolschewiki nach und gaben sich dabei als Funktionäre des Sowjetstaates aus. Bald klauten Banden im gesamten Land alles, was nicht niet- und nagelfest war, vor allem Autos.
Auch Lenin wurde zum Opfer. Er hatte sich drei Autos aus der kaiserlichen Garage des Alexanderpalastes angeeignet – zwei Rolls-Royce und den Delaunay-Belleville des Zaren. Er ließ sich ganz feudal von einem Chauffeur in ihm herumkutschieren, bis ihn im März 1918 eine bewaffnete Bande stoppte, zum Aussteigen zwang und hilflos am Straßenrand zurückließ.
Wer aber waren die Adeligen, deren Schicksal mit der Machtergreifung der Bolschewiki besiegelt wurde? Der amerikanische Historiker Douglas Smith sagt es uns in seinem Buch „Der letzte Tanz“ über den „Untergang der russischen Aristokratie“: Es handelte sich um einen bunt gemischten Haufen. Natürlich gab es unter den russischen Grafen und Fürsten verstockte Reaktionäre und Anhänger des Zaren.
Es gab unter ihnen aber auch Liberale wie Vladimir Nabokov, den Vater des großen Romanciers. Es gab Anarchisten wie den Fürsten Kropotkin. Und es gab Bolschewiki wie Wladimir Ilijitsch Uljanow, der sich Lenin nannte und sich noch 1904 in einer Genfer Privatbibliothek als „W. Oulianoff, gentilhomme russe“ vorstellte. Nikolaus Nabokov, einem Cousin des Schriftstellers, fiel auf, dass der Mann sich in revolutionären Ansprachen an das Proletariat „ausdrückte wie ein Salonsnob der Oberschicht“.
Smith färbt die historische Rolle des Adels keineswegs schön. Er schreibt also, dass die Millionen russischen Bauern in Umständen lebten, die eigentlich nicht besser waren als jene der schwarzen Sklaven in den amerikanischen Südstaaten: Sie gehörten ihren Herren, wie ihnen das Ackerland gehörte, und als die Leibeigenschaft abgeschafft wurde (spät – unter Alexander II. im Jahre 1861), verbesserte sich ihre Lage nicht wesentlich, denn sie blieben durch Schuldknechtschaft trotzdem an die Scholle und ihren Fürsten gefesselt.
In Russland waren durch Jahrhunderte der Unterdrückung zwei Welten entstanden: Hier die Unteren – verlumpte Gestalten, die knochenbrechende Arbeit leisteten; fast alle Analphabeten, fast alle zutiefst religiös. Und dort die Oberen – in Samt und Seide gekleidet, begeisterte Opern- und Theaterbesucher, fast alle mit französischen Gouvernanten aufgewachsen. Nicht wenige russische Aristokraten haben die Ereignisse der Jahre 1917 ff. als Strafe Gottes für ihre Hybris verstanden.
Das oben beschriebene Massenbesäufnis führte zu einem Bürgerkrieg, der zu den großen Kataklysmen der europäischen Geschichte gehört. Es ist zu einfach, wenn man sagt, dass dabei die „Weißen“ gegen die „Roten“ kämpften, denn die „Weißen“ waren in Wahrheit ein Bündnis, zu dem Monarchisten und Kosaken ebenso gehörten wie radikale Sozialisten; mittendrin die ukrainischen Anarchisten des Nestor Machno; gleichzeitig erkämpften sich verschiedene Nationalitäten wie die Finnen ihre Unabhängigkeit. Es war ein ungeheures Gemetzel, und am Ende waren zehn Millionen Menschen tot, fast alles Zivilisten.
Für die während dieses Bürgerkrieges begangenen Grausamkeiten gibt es keine Sprache. Am schlimmsten traf es die Juden, die vor allem von den „Weißen“ abgeschlachtet wurden, weil sie allesamt verdächtigt wurden, Bolschewisten zu sein (die wenigsten Juden waren es). Aber die „Roten“ verstanden sich genauso gut auf Schlächtereien: Eines Nachts wurden 25 Aristokraten, die von den Bolschewiki als Geiseln festgehalten wurden, zu einem Friedhof geführt, dann mussten sich 15 Männer an den Rand eines frisch ausgehobenen Grabes stellen, dann hoben die Henker ihre Schwerter. Da sie nicht gut mit diesen altertümlichen Waffen umgehen konnten, säbelten und hackten sie eine Stunde lang herum, bis es ihnen gelungen war, ihre Opfer zu enthaupten. Hätten sie Mobiltelefone gehabt, hätten sie, daran besteht kein Zweifel, Videos von dieser Hinrichtung gedreht – so mussten sie sich damit begnügen, lauthals mit ihren Schindereien anzugeben.
Auch die Hinrichtung der Zarenfamilie gestaltete sich blutig, chaotisch und brutal. In den frühen Morgenstunden des 17. Juli 1918 wurden Zar Nikolaus, seine Gattin Alexandra, ihre fünf Kinder, ihre verbliebenen drei Diener und ihr Leibarzt geweckt. Sie mussten sich vor einer Wand aufstellen, dann wurde zehn Minuten lang geschossen und mit Bajonetten in noch zuckende Leiber hineingestochen. Notabene: Jene Bestien, die da Kinder niedermetzelten, waren keine religiösen Fundamentalisten. Sie mordeten nicht zur höheren Ehre Allahs, sondern im Namen der Aufklärung und des entwickelten wissenschaftlichen Sozialismus.
Die Wand im Ipatjewschen Haus in Jekaterinburg: Vor ihr musste die Zarenfamilie sich aufstellen und sich Bajonetten und Schüssen niedermetzeln lassen. Die Ermordung fand am 17. Juli 1918 frühmorgens statt.
Die undatierte Archivaufnahme zeigt den letzten russischen Zaren Nikolaus II. und seine Ehefrau Alexandra Fjodorowna (geborene Alix, Prinzessin von Hessen-Darmstadt) mit ihren Kindern (von links) Olga, Alexej (vorn), Maria, Anastasia (vorn) und Tatjana. Die ganze Familie starb im Kugelhagel vor der im Bild oben aufgezeigten Wand.
Es gibt in dem Buch von Douglas Smith auch einen Helden, den heute beinahe vergessenen russischen Nobelpreisträger Iwan Bunin. Im Frühling 1918 siedelte er sich mit seiner Frau in Odessa an und verhehlte nicht seine Abscheu vor dem bolschewistischen Pack, das er in seinem Tagebuch wie folgt beschrieb: „Matrosen mit gewaltigen Brownings am Gürtel, Taschendiebe und Verbrecher, glattrasierte Dandys in Uniformjacken und unzüchtigen Reithosen, in stutzerhaften Stiefeln, unbedingt mit Sporen, aber mit Goldzähnen und großen, dunklen Kokainaugen.“
Aber als im Spätsommer 1919 die „Weißen“ Odessa zurückeroberten, weigerte Bunin sich, ihrem Regime zu dienen, nachdem er erfahren hatte, was seine zwei wichtigsten Programmpunkte sein sollten: die Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie und unbedingte Feindschaft gegen die Juden. Iwan Bunin war ein Aristokrat des Geistes, kein Antisemit. Am Ende ging er nach Frankreich ins Exil, und in der Zeit der deutschen Besatzung versteckte er jüdische Emigranten in seinem Haus.
Die meisten russischen Adeligen verließen Russland, nachdem die Bolschewiki den Bürgerkrieg gewonnen hatten. Andere blieben – aus Liebe zu Mütterchen Russland. Am meisten wundert man sich darüber, dass es ein paar gab, die alles überlebten, was danach kam: das kurze Aufatmen unter der „Neuen Ökonomischen Politik“, als Lenin ein bisschen Vernunft, ein bisschen Marktwirtschaft, ein bisschen Realismus zuließ; das Ende dieser „Neuen Ökonomischen Politik“ unter Lenins Nachfolger; den großen Terror von 1937; den Zweiten Weltkrieg, als das Land beinahe verhungert wäre.
Und doch leben Nachkommen der Aristokraten von damals heute noch – einen von ihnen hat Douglas Smith in Moskau getroffen, und er hat aktuell begründete Angst vor Wladimir Putin.