Shin Dong-hyuk hatte das Pech, in einem von Nordkoreas KZs geboren worden zu sein. Der Junge wird gefoltert und Zeuge schlimmer Verbrechen. Doch er kann fliehen und seine Geschichte aufschreiben.
Blaine Harden: „Flucht aus Lager 14. Die Geschichte des Shin Dong-hyuk, der im nordkoreanischen Gulag geboren wurde und entkam“. (DVA, München. 251 S., 19,99 Euro. ISBN 978-3421045706)
Zur Zeit sollen rund 200.000 Menschen in den zerklüfteten Bergregionen eingesperrt sein.
Die gängigen Euphemismen beschönigen die Tatsachen. Vollständig von der Außenwelt isoliert, fristen die Insassen ein rechtloses Dasein in äußerstem Elend. Maisbrei, Kohlsuppe und Rattenfleisch sind ihre Nahrung. Von Wächtern und Häftlingswärtern, einer Art „Kapos“, werden sie drangsaliert und getötet. Niemand soll von dort zurückkehren. Die Häftlinge sterben durch Hunger und Plackerei, Folter und Exekution, durch Erniedrigung und Seelenmord.
In vielen Merkmalen gleichen die koreanischen Lager den deutschen, russischen oder chinesischen KZs. Ihre Spezialität jedoch ist die Sippenhaft und der totale Verrat. Bis ins dritte Glied werden die Angehörigen eines Verdächtigen verfolgt.
Alle Häftlinge unterliegen strikter Anzeigepflicht. Jeder ist jedes anderen Denunziant. Vertrauen ist gefährlich, denn jeder kann ein Verräter sein. In den Schlafsälen, Schulzimmern und Arbeitsstätten herrschen Mundraub, Argwohn und Einsamkeit. Die Menschen belauern sich gegenseitig. Niemals dürfen mehr als zwei Häftlinge beieinander stehen, befiehlt die Lagerordnung.
Wer dagegen verstößt, wird auf der Stelle erschossen. Auffälligkeiten sind unverzüglich anzuzeigen. Verschweigen wird streng bestraft. Willige Informanten erhalten dagegen einen Judaslohn, eine leichtere Arbeit, eine Extraration. So zerstört das Lager nicht nur das Weltvertrauen des Individuums, sondern auch den sozialen Zusammenhalt. Informationen aus den Terrorkolonien sind rar.
Lager 14 – das schlimmste KZ
Blaine Harden, vormals Auslandskorrespondent der „Washington Post“ und nun Autor des „Economist“, erzählt eine einzigartige Geschichte. Sie handelt von Shin Dong-hyuk, der 1982 im Lager 14, einem der schlimmsten KZs, geboren wurde und bis zu seiner Flucht 2005 nie etwas anderes erlebt hatte als die Schule der Niedertracht und Grausamkeit.
Seine Existenz verdankt er einer „Belohnungsehe“, die von den Aufsehern im Lager gestiftet wurde. Unverheirateten wird als höchste Prämie für harte Arbeit und verlässliche Denunziation manchmal eine Hochzeit gewährt, mit fünf gemeinsamen Nächten und ein paar Besuchen während des Jahres. Shins Bruder war acht Jahre älter, ein Fremder wie der Vater, die Mutter und die anderen Kindersklaven.
Der Hunger als Folterknecht
In der Schule brachten ihm die Wärter bei, sich zu verbeugen, niemandem in die Augen zu sehen und sich seiner Herkunft zu schämen. Notdürftig lernte er das Alphabet, das Addieren und Subtrahieren, aber nicht das Einmaleins. Fragen zu stellen war verboten und zog Prügel nach sich. Um an eine zusätzliche Essensportion zu gelangen, verrieten die Kinder den Lehrern, was ihre Kameraden aßen und was sie gesagt hatten. Von der Welt jenseits des Lagers erfuhren sie nichts, nichts von ihrem Land und seiner Hauptstadt, nichts vom Regime und der Propaganda der Kim-Dynastie, geschweige denn von der Existenz eines zweiten Korea im Süden. Sie kannten kein Geld, keine Lieder, keine Moral, keine Freunde.
Es gab für Shin keine Hoffnung, die er hätte verlieren, keine Vergangenheit, der er hätte nachtrauern, keinen Stolz, den er hätte verteidigen können. Er fand nichts dabei, verschüttete Kohlsuppe vom Boden aufzulecken. Sein einziger Traum galt einem Festmahl, von dem ihm ein älterer Häftling erzählt hatte. „Freiheit“ war für ihn ein anderes Wort für gegrilltes Fleisch. Frühzeitig wurden die Kinder zur Arbeit eingesetzt. Sie fällten Bäume und reinigten Aborte, sie sammelten Kräuter für ihre Wärter, jäteten im Sommer Unkraut von vier Uhr früh bis zur Abenddämmerung, sie schufteten im Bergwerk, auf den Feldern, in der Textilfabrik, beim Dammbau. Ihr einziger Lebenssinn war die Erschöpfung ihrer Arbeitskräfte.
Der Mord an der Mutter
Shin verriet den Fluchtplan seiner Mutter und seines Bruders. Da der Nachtwächter, dem er sich anvertraut hatte, unterschlug, von wem er den Tipp erhalten hatte, wurde Shin als vermeintlicher Mitwisser ins unterirdische Lagergefängnis geworfen und gefoltert. In der monatelangen Dunkelhaft herrschte Sprechverbot, doch konnte er mit seinem Zellengenossen flüstern, einem alten Mann, der seine Wunden versorgte und ihm zum ersten Mal erzählte, wie gekochtes Huhn schmeckt.
Im innersten Kreis der Lagerhölle erlebte Shin zum ersten Mal menschliche Freundlichkeit. Als er nach über einem halben Jahr ans Sonnenlicht zurückkehrte, fuhr man ihn mit seinem Vater auf ein abgeerntetes Weizenfeld. Viele Häftlinge waren dort versammelt. Doch in der ersten Reihe war noch Platz. Sein Bruder wurde erschossen und seine Mutter am Galgen aufgehängt.
Neun Jahre später gelang Shin die Flucht. Sein Gefährte, der ihm von der Welt jenseits der Grenze erzählt hatte, verbrannte im Hochspannungszaun. Quer durch Nordkorea führte der Weg bis zur chinesischen Grenze. Shin bewegte sich im Windschatten der Vagabunden und Schmuggler, der Obdachlosen und jugendlichen Diebe. Auf der Odyssee in die Freiheit kam ihm die Schule des Mißtrauens zustatten.
Ein Zeugnis der Schrecklichkeit
Über die Grenze nach China kam er durch Bestechung; bei einem Schweinezüchter, bei dem er zehn Monate blieb, erhielt er für seine Arbeit zum ersten Mal Lohn und warme Winterkleidung.
Hardens Buch ist ein notwendiges Dokument gegen die Gleichgültigkeit. Manchmal liest sich der Bericht, der durch zeithistorische Informationen ergänzt wird, wie eine Art blockierter Entwicklungsroman. Die Flucht aus der Hölle war für Shin keine Rückkehr. Es war ein Sprung in eine unbekannte Welt. Als junger Erwachsener musste er erst lernen, was ein Radio ist, wie man mit Geld Kekse kauft, was Schuld bedeutet, wie man sein Gegenüber anblickt.
Sechs Monate verbrachte er im südkoreanischen Konsulat in Shanghai, wohin ihn ein Journalist gelotst hatte. Auch in Südkorea und den Vereinigten Staaten, wo man sich intensiv um den Flüchtling kümmerte, verheilten die Wunden des Lagers nicht: die Albträume, die verkrümmten Arme, der chronische Argwohn, die Empfindungslosigkeit, der Selbsthass, das Leben ohne Weinen und Lachen. Trotz gelungener Flucht konnte er dem Lager nie ganz entkommen.